Honda XR 600 R Tourenumbau von Jörg Kübler
Enduro 7/95
'Forever Young'


Mit der Sportenduro reisen, Traum vieler Puristen.
Die Honda XR 600 R mit Tourenausstattung.
Die Überlegung ist einfach, das Konzept besteht seit langem. Touren mit der Sportenduro, ein Thema, das von vielen mit einer lässigen Handbewegung oder einem höhnischen Grinsen zur Seite geschoben wird. Warum eigentlich? Haben wir in verschiedenen ENDURO-Vergleichstests nicht schon mehrfach feststellen müssen, daß der Komfort, der sich beim Fahren solcher Maschinen einstellt, teils größer ist als der vermeintlicher Reiseenduros. Am Beispiel der mittlerweile schon etwas betagten, aber nach wie vor überaus beliebten Honda XR 600 R wollen wir die Reisetauglichkeit on und off road ausloten.
Das Fahrzeug, vom XR-Spezialisten Stegmüller im schwäbischen Heilbronn vorbereitet, mußte außer einem großen Tank, einem Gepäckträger und einer Zweimannzulassung mit dazugehörender stärkerer Feder keinerlei Veränderungen über sich ergehen lassen. Lediglich die serienmäßige Bereifung wich zwecks Langstreckentauglichkeit einer anderen Paarung. Doch zu diesem Punkt später.
Seit über zehn Jahren ist die nahezu unveränderte Honda nun auf dem deutschen Markt. Einzig die Farben zeigen ein neues Modelljahr an. Die '95er Version erstrahlt in einem kräftigen Weiß-Lila anstatt dem letztjährigen Hellblau. Sie erobert dennoch die Herzen der Hobby-Enduristen, obwohl die Aufrüstung europäischer Marken nicht mehr zu bremsen ist. Trotz alledem wird der Kreis der XR-Infizierten immer größer. Zuverlässigkeit, Modellkonstanz und eine hohe Lebenserwartung sind die maßgebenden Argumente der Käufer. Diese betagte XR vermag noch immer Geländefahrer jeder Coleur in ihren Bann zu ziehen.
Auf den ersten Blick verrät die Honda unmißverständlich ihren Einsatzzweck: Eine Offroad-Maschine, die ursprünglich für den amerikanischen Markt konzipiert war. Überzeugend wirkt die Verarbeitung des Stollenrosses. Sauber verschweißte Nähte, technische Details wie Schnellverschlüsse am Luftfilterkasten prägen den Eindruck eines durchdachten und bewährten Gesamtkonzepts.
Zwei Personen, für vier Tage Gepäck. Wer sich mit einer serienmäßigen Honda XR den Kopf zerbrechen muß, wie er das Gepäck unterbringen soll, erkennt schnell den praktischen Wert des zugegebenermaßen etwas sonderbar aussehenden Gepäckträgers. Die ohnehin sehr kurze Sitzbank wird somit für den Zweipersonenbetrieb etwas tauglicher. Wer die lästigen Tankintervalle des Serientanks kennt, wird über den 20Liter-Acerbis-Tank und seine Reichweite mächtig froh sein. Das ermöglicht auch ausgedehnte Schotterorgien in den Bergen, ohne ständig mit der Angst leben zu müssen, ohne Benzin auf halber Strecke stehenzubleiben.
Die Maschine steht abfahrtsbereit im Hof, und die Sozia versucht die hoch angebrachten Fußrasten zu erklimmen. Schon nach dem ersten Versuch stellt sich heraus, daß es sich hier nur um eine Alibilösung handeln kann. Die teils mit Schellen am Rahmen befestigten Rasten geben nach und zerstören im geringsten Fall nur die Lackschicht des angeschweißten Rahmenheckauslegers. Im schlimmsten Fall muß man die Dinger mit roher Gewalt in Ihre ursprüngliche Lage zurückbiegen. Eine kleine Anmerkung zur Lackierung: Leider wurde auch bei dieser XR auf eine Grundierung verzichtet.
Der Start gestaltet sich unproblematisch. Chokehebel am Vergaser gezogen, die automatische Dekoeinrichtung tut das ihre. Ein kräftiger Tritt und der Eintopf schickt seinen angenehmen Sound in die laue Morgenluft. Selten läßt sich der kalte oder auch heißgefahrene Motor mehr als dreimal bitten. Sollte das Motorrad jedoch bei einem Geländeausflug Bodenkontakt bekommen haben, so kommt man nicht umhin, den Pott mittels geschlossenem Bezinhahn und der Dekovorrichtung leerzupumpen.
Die Anreise gen Süden - der Gardasee reizt noch immer - erfolgt meist auf guten Landstraßen und einem kleinen Stück Autobahn. Hier macht sich zum erstenmal der bekannt schlechte Geradeauslauf der Honda bemerkbar. Durch den kurzen Radstand - das Fahrwerk ist auf extreme Handlichkeit ausgelegt - neigt die XR ab Tempo 120 auf äußere Einflüsse in Form von Bodenwellen, Längsrillen oder anderen Fahrbahnunebenheiten zu starkem Lenkerpendeln. Ab 130 Stundenkilometer wird dieser Zustand nicht ungefährlich. Im Zweipersonenbetrieb bessert sich das Verhalten, da sich die Lenkgeometrie durch das stärker belastete Heck etwas verändert.
Kommt jetzt noch eine Vollbremsung hinzu, bei der die Maschine infolge des stark eintauchenden Vorderteils an Vorderradnachlauf verliert, so wähnt sich der Fahrer eher auf einem Rodeopferd als auf einer Enduro.
Wo wir auch schon bei den Bremsen wären. Kein schwammiges Verhalten. Auf der Suche nach dem Druckpunkt wird man gleich mit gut beherrschbarer Bremsleistung verwöhnt. Alles Honda-typisch. Gleiches gilt für Kupplung und Getriebe. Schon in kaltem Zustand trennt die Kupplung einwandfrei, und die Gänge rasten sauber. Der Leerlauf ist, ob kalt oder warm, in jeder Situation aufzufinden. Einzig die Schaltwege sind für ein Motorrad, das den Anspruch erhebt, auch im Gelände zuhause zu sein, etwas lang geraten. Dennoch geht die Handhabung beschriebener Details ohne Streß und lästige Arbeit vonstatten. Man kann sich voll aufs Fahren konzentrieren.
Zurück zur Tour. Die Sitzposition ist angenehm aufrecht und endurotypisch. Der Fahrer sitzt bei einer Sitzhöhe von rund 95 Zentimetern über den Dingen und hat von hoch oben die Sache voll im Griff. Die Sitzbank ist für den Zweipersonenbetrieb etwas zu kurz geraten, die Sozia klagt über zu wenig Platz. Unser Vorteil ist der montierte Gepäckträger, der es erlaubt, das Gepäck weit hinten auf dem Kotflügel zu plazieren, was natürlich bedeutet, daß dort keine allzu schweren Gepäckstücke Platz finden können. Bei einer Zuladung von lediglich 136 Kilogramm steht man ohnehin schon vor dem Problem der Überladung.
Der 20 Liter fassende Acerbis-Tank bietet sowohl auf der Straße als auch im Gelände einen hervorragenden Beinschluß. Seine Reichweite beträgt je nach Fahrweise fast bis zu 400 Kilometer.
An der Autobahnraststätte schnell vollgetankt und noch einen kleinen Happen zwischen die Zähne. Doch hält das kleine Lenkschloß auch Langfinger ab, die es gewohnt sind, Sicherheitsschlösser zu knacken? Wohl nicht. Es empfiehlt sich daher, immer ein zusätzliches Schloß mit sich zu führen. Denn sollte man mal vergessen haben, das Lenkschloß zu verriegeln, so ist das Motorrad dank fehlendem Zündschloß bedingungslos startklar.
Kurvige, enge und verwinkelte Paßstraßen. Hier fühlt sich die Honda pudelwohl. Dank niedrigem Gewicht und tadellosem Handling läßt sie sich wie ein Fahrrad um die Kurven zirkeln. Dieser Eindruck verfliegt jedoch, wenn der Fahrer das Tempo forciert oder gar in Super-Moto-Manier über den Asphalt prügeln will. Das Motorrad schmiert übers Hinterrad weg und läßt den genauen Ausgangspunkt am Kurvenende nur noch erahnen. Dies liegt mitunter auch an der montierten Reifenpaarung, vorne ein grobstolliger Metzeler MCE Front, der in neuem Zustand ständig dazu neigt, wegen der extremen Stollenhöhe seitlich wegzuknicken. Hinten der Metzeler Safari, der bereits bei leicht feuchter Straße sämtliche Haftungsgesetze über Bord wirft. Diese Paarung hinterläßt den Eindruck, als sei sie nicht gerade füreinander geschaffen.
Begeisternd ist der im mittleren Drehzahlbereich durchzugsstarke Motor, der sich trotz seiner geringen Leistung von rund 40 Pferdestärken nicht hinter der Konkurrenz zu verstecken braucht. Hier stimmt das Zusammenspiel von Primär- und Sekundärübersetzung tadellos überein.
Gerade auf verwinkelten Strecken kann die XR auch im Zweipersonenbetrieb ihre enorme Handlichkeit in Schnelligkeit umsetzen.
Schotter, Schotter und nochmals Schotter. Endurado Gardasee. Gepäck über Bord geworfen und ab ins Gelände. Auch hier überzeugt der leise und kultivierte Motor, der in jeder Fahrsituation die zur Verfügung stehende Leistung exakt und präzise in Vorwärtsdrang umsetzt. Keine wilden Drifts infolge überschäumender Leistung, keine langezogenen Arme aufgrund brachialer und kaum zu bändigender Pferdestärken. Das XR-Triebwerk ist unspektakulär und sehr kraftschonend zu fahren. Nach einem langen Geländetag weiß man diese Eigenschaften um so mehr zu schätzen.
Grober Schotter, teilweise mit einigen Trialeinlagen. Hier ist die Honda in ihrem Element. Elegant läßt sie sich über Steinstufen und Hindernisse jeder Art bugsieren, ohne ihren Fahrer vor große Probleme zu stellen. Dazu tragen wiederum die sanft einsetzende Leistung und das besagte superleichte Handling bei. Sollte es zu schnellerer Gangart kommen, so gilt das gleiche wie auf der Straße. Die XR neigt durch ihre Fahrwerksgeometrie schnell dazu, übers Vorderrad wegzuschieben und fordert in dieser Situation eine führende Hand und ein starkes Nervenkostüm. Wie gesagt, Geradeauslauf ist nicht ihre Stärke.
Wir wechseln den Ort und den Belag. Feiner Schotter und teils sandiger, feuchter Waldboden. Keine Bodenwelle stört, keine Längsrille veranlaßt das Vorderrad, aus der Spur zu laufen. Hier hat der Honda-Fahrer die Nase vorn. Die Synthese von Leistungseinsatz, Handlichkeit, einem robusten und dennoch leichten Motorrad lassen den XR-Fahrer auf diesem Terrain eine gute Figur machen. Wer nun denkt, daß ein großer und bis oben vollgetankter 20-Liter-Tank ein Hindernis sei, dem sei gesagt, daß sich hier durch günstige Schwerpunktlage kaum Unterschiede zum serienmäßigen Zehnliter-Behälter bemerkbar machen.
Die Federelemente stellen den Fahrer selten vor größere Probleme. Sie sprechen fein an und erfüllen ihre Arbeit zufriedenstellend. Lediglich bei extremer Beanspruchung, bei schnell aufeinanderfolgenden Bodenwellen oder mehreren hintereinander ausgeführten Sprüngen neigt die Federung, im Zuge der Erwärmung ihre Arbeit zu vernachlässigen. Dennoch ist die Honda, vergleicht man ihre Federkomponenten mit neueren Konstruktionen der Konkurrentinnen, immer noch auf der Höhe der Zeit.
Die XR ist in jedem Fall eine Allround-Enduro für alle Spielarten. Obwohl sie in keiner Sparte die absolute Spitzenwahl wäre, hinterläßt sie insgesamt einen soliden und durchweg guten Eindruck. Ob in der nahegelegenen Kiesgrube, beim lizenzfreien Wettbewerb oder in den Sanddünen der Sahara, die Honda bietet für jeden Einsatzzweck eine preiswerte Basis. Wer bei Sporteinsätzen um die vorderen Plätze oder um Zehntelsekunden kämpfen möchte, kommt natürlich um eine intensive Fahrwerkspflege nicht herum - ganz abgesehen von der vergleichsweise bescheidenen Motorleistung.
Das Angebot für diese Modellreihe ist beinahe unüberschaubar. Unzählige Anbieter haben sich der alten Dame angenommen und offerieren vom 40-Liter-Wüstentank bis zum kompletten Motorentuning alles, was das Herz des XR-Reiters begehrt.